- Kucki 232
Folge 100 - Mach die Augen auf

Erste Herbstwoche: Dienstag
Geburtstag: keiner
Event/Feiertag: keiner
Erzähler/in: Aurelie
Dass Onkel Phillip nicht mehr ist, finde ich sehr traurig. Er hat mich immer mit seinen Scherzen aufgemuntert. Ist es nicht normal so, dass eigentlich die ganzen Großeltern wegsterben und nicht die ganzen Onkels und Tanten? Das fühlt sich irgendwie komisch an. Jetzt erst merke ich, wie jung Mam eigentlich ist, im Gegensatz zu den anderen.

Madleen und ich konnten die ganze Nacht nicht schlafen. Wir haben über unsere alten Tage in Windenburg geredet, denn wir merken immer mehr, wie es uns fehlt. Dort oben auf den Klippen. Einfach abschalten. Der Wahnsinn. Hier ist es ja auch irgendwo schön, aber ich liebe das weite Meer. Es fühlt sich alles so grenzenlos an, wenn man die ganze Zeit draufstarrt.

Und hier ist alles so trostlos. Irgendwie hübsch, aber eben kein Meer. Der kleine Wasserfall ist das einzig beruhigende hier in der Gegend. Dort sitze ich gern und lese. Ich bin froh, dass ich meine Schwester habe. Wir brauchen uns gerade mehr denn je.
„Hey, komm mal her. Wir schon kein scheiß Tag. Wir können ja Blödsinn machen, hihi.“
„Hm, ne. Ich glaube, ich verkrieche mich irgendwo und lese.“
„Ach menno. Du verpasst so viel, wenn du immer nur liest.“

Irgendwo hat sie ja recht, denn ich lese wirklich viel. Da beneide ich Joel. Er ist mittlerweile viel draußen. Wundert mich, denn er bleibt länger weg und kommt oft erst zum Abendessen. Gestern auch. Und dann merke ich, dass selbst meine Schwester heute Schwierigkeiten hat, so richtig zu starten. Mit Onkel Phillip fehlt doch schon ganz schön was.

„Wollen wir wirklich heute in die Schule? Ich glaub’, das ist ein bisschen doof, oder?“

„Du hast recht. Das hat keinen Sinn.“
Wir schnappen uns unsere Handys und rufen in der Schule an. Heute geht nichts. Das spüre ich.
„Ja, danke, Frau Holle. Ja, danke. Bis bald.“

Also geht es auf in den supercoolen Tag. Die Stimmung ist der Wahnsinn. Ein kleiner Lichtblick bleibt trotzdem, da wir alle gemeinsam am Tisch sitzen können und das sogar mit einem warmen Hintern. Die anderen, außer Joel, nehmen sich heute einen Tag frei.

Und dann kommt Mam noch zu uns. Oh man. All ihre Geschwister sind nun fort. Das ist doch mies. Daran will ich gar nicht denken, wenn plötzlich meine Geschwister alle weg sind und ich dann so allein.

„Mam? Was ist denn dann mit der Beerdigung? Gehen wir diesmal alle hin? Das wäre schön. Ich mochte Onkel Phillip sehr.“

„Ich weiß noch nicht, Süße. Wollte erstmal mit Benny, Natalie und Fiona reden, was sie vorhaben. Ich sag’ dir dann Bescheid.“
Na gut. Also geht mein üblicher Tagesablauf los. Mit lesen.

Und ich lese. Tja. Mein Tag ist halt nicht so der Brüller. Wenn ich lese, kann ich gut abschalten und ich vergesse alles um mich herum. Mein Rückzugsort - was auch immer.

Wahnsinn, dass Joel jetzt den Mut aufbringt, in die Schule zu gehen. Klar, irgendwo hat er ja recht. Es lenkt gut ab. Aber in der Schule ist es eh öde. Ich verpasse da einfach nichts, außer irgendwelche Zicken, die sich über ihre Klamotten unterhalten. Ohne mich.

Also lese ich weiter.

Zwischendurch muss ich dann doch mal in Emilios Zimmer schauen. Er kann mittlerweile richtig gut Gitarre spielen. Hört sich echt schön an. Vor allen Dingen hätte ich nicht gedacht, dass er singen kann. Auch Emilio zieht sich immer mehr zurück. Das ist ganz ungewohnt bei ihm. Irgendwie herrscht hier in letzter Zeit nur Trauer und Kummer. Wir sind zwar irgendwie alle zusammen, aber irgendwie auch nicht. Es ist wie ein Geisterhaus hier.

Und so macht jeder halt sein Ding. Paps ist ordentlich im Wohnzimmer zugange und schraubt hier und da rum. Reden tun wir nicht wirklich.

Paps versucht uns alle aber irgendwie aufzumuntern. Mam sitzt schon die ganze Zeit im neuen Wohnzimmer und ist nur am Heulen. Und da hat Paps sich so eine Mühe gegeben mit dem Haus. Freude kommt trotzdem nicht so richtig auf.

Ist doch wirklich schön geworden. Es ist aber noch nicht fertig. Verrückte Farben, wie ich finde, aber es ist mal was anderes.

Wir haben jetzt sogar einen Kamin. Yeah.

Wenn ich bedenke, dass wir hier letztens alle noch auf einem Haufen geschlafen haben. Puh. Ich habe mich dann immer nach draußen gesetzt und gelesen. Und wenn das die ganze Nacht war.

Ich beschließe noch etwas in die Bibliothek von Copperdale zu gehen. Hier ist mir aktuell dann doch etwas zu viel los. Im Zimmer die ganze Zeit auf dem Bett zu sitzen, geht auf Dauer ganz schön in den Nacken.
*****
Oh, man. Der Tag ist doch echt für die Katz. Kann nicht einfach mal was Positives passieren? Irgendwas? Nur ein bisschen.

Ich schaue also, was es hier noch für spannende Bücher gibt. Ich glaube, ich habe hier auch schon bald alle durch. Oh, cool. Eine Romanze. Hab da ja mal so ein schönes Buch gelesen. Total schleimig, aber ich finde das süß. Manchmal denke ich dann immer, dass ich in diese Rolle schlüpfe und ich Herzklopfen habe wie wild. Schon irgendwie ein komischer Gedanke. Aber so sind Bücher nun mal.

Ja, mein Leben ist nicht gerade so spannend wie das meiner Geschwister. Tut mir ja ein bisschen leid, hihi. Bis dann noch eine nächste schockierende Nachricht kommt: Tante Aurora ist ebenfalls gerade verstorben. Ich halte das langsam nicht mehr aus.

Also lese ich einfach. Wie vorhin schon und heute Morgen und eigentlich immer.

So richtig habe ich ja auch eigentlich gar keine Lust zu erzählen, was ich so mache. Da würde man doch bei einschlafen. Oder soll ich erzählen, was so in meinen Büchern spannendes ist? Sowas muss man selbst lesen und fühlen.
Bis sich dann aber zwei Typen lauthals unterhalten. Hallo?! Wir sind hier in einer Bibliothek. Kennen die keinen Anstand?

Boah. Jetzt reicht's mir. Die nerven richtig. Arghs. Ich klappe wütend das Buch zu und überlege, sie anzuschnauzen.

Das mache ich jetzt auch. So laut wie die jetzt lachen. Pff. Das kein anderer was sagt. Das gehört sich einfach nicht. Ich höre raus, dass sich der Rothaarige mit Collette vorstellt. Ob er mit den Zwillingen verwandt ist? Würde mich nicht wundern. Die Familie scheint echt keinen Anstand zu haben.

„Hey, was soll das hier? Spinnt ihr? Ich möchte in Ruhe lesen.“
Die beiden schauen sich nur an. Ja klar. Jetzt bin ich natürlich die Böse. Idioten. Habe andere Probleme.

Blödmänner. Die quatschen einfach weiter.

Ich lege mein Buch weg und stelle mich einfach mit dazu. Hat ja eh keinen Sinn zu lesen. Der Collette ist sogar noch lauter geworden seitdem. Ja, das ist eindeutig einer. Pff.

Ich weiß gerade nicht, ob ich wütend bin oder einfach nur traurig. Ob ich allein sein will oder vielleicht doch mal mit wem reden sollte. Ich weiß es nicht.

Eines weiß ich: Die beiden nerven mich gerade tierisch und ich lese dann doch lieber zuhause weiter.
„Wisst ihr was? Ihr habt gewonnen. Ja, ihr habt gewonnen. Mir ist das alles egal. Redet nur weiter. Tschüss, ich gehe.“
Jetzt gucken sie sich erst recht fragend an.

„Spinnt die Alte? Bekommt wohl nicht genug Liebe zuhause, was?“
Aber wenigstens hält die Brillenschlange ihre Klappe.

*****
Ich habe genug für heute. Ehrlich. Ich mag nicht mehr.

Später setze ich mich dann noch nach draußen und lese wieder. Wahnsinn. Aber was soll ich denn sonst machen?

Trotzdem freue ich mich noch auf den Besuch von Joshi. Ihn vermisse ich so richtig. Ich durfte gestern sogar Maximilian in den Arm nehmen. Er ist total süß. Es ist ein schönes Gefühl. Tante zu sein.
