- Kucki 232
Folge 55 - Die Suche nach dem Jungen (Teil 3)

Ich bemerke, wie der Junge hinter mir stehenbleibt. Jetzt weiß ich gar nichts mehr. Was sage ich nun? Wie muss ich mich verhalten? Nicht, dass ich ihn nachher verschrecke oder seine Situation noch schlimmer mache. Ein bisschen habe ich ja noch über Autisten gelesen, aber das alles zu verstehen, braucht seine Zeit. Die habe ich aber gerade nicht.

Man muss bedenken, dass Lukas auch erst 8 ist. Na ja. Eigentlich hat das ja nichts zu bedeuten. Auch Achtjährige können es faustdick hinter den Ohren haben.
Ich drehe mich vorsichtig um. Emilio steht jetzt auch da, wie angewurzelt. Er hat Schiss. Das merke ich ihm an. Aber da kümmere ich mich später drum.
Lukas schaut sofort weg, als ich ihn anschaue.

Einmal tief durchatmen und dann den ersten Versuch starten.
„Hey, Sportsfreund. Wie war dein Tag bislang so?“

Warum frage ich das? Was ist los mit mir? Ich bin Detektiv und da kann ich mir keine Fehler erlauben. Selbst bei einem Kind nicht. Ich bin so durcheinander. Da denke ich, dass jetzt alles wieder besser wird und ich semmel gleich in die nächste Katastrophe.
Lukas setzt sich schlagartig auf den Boden und hält seine Knie fest. Er fängt an, hin- und herzuwippen.
„Ich hab nichts gemacht. Ich hab nichts gemacht. Ich hab nichts gemacht“, kommt von ihm nur.
Was mache ich denn jetzt? Verdammt.

Ich drehe mich zu meinem Sohn um und verzweifle gerade etwas. Wie soll ich dem Jungen helfen, wenn ich nichts darüber weiß, was in ihm vorgeht?
Also rede ich in einem ruhigen Ton mit Emilio und versuche zu verstehen, was hier vor sich geht.
„Hör zu. Du hast es gut gemeint, ja. Aber ihr könnt dem Vater nicht einfach das Kind wegnehmen.“
„Ich hasse, Papa. Ich hasse Papa. Ich hasse ihn. Hasse ihn“, kommt wiederholt von Lukas.
„Ja, Paps. Dann sag mir, was ich anderes hätte tun sollen? Welche Situation ist wohl besser, hmm?“
„Ich. Hmpf. Aber.“

Ich mache meinen Job jetzt ein paar Jahre und viele Fälle konnte ich gut lösen. Manche waren kniffliger oder gefährlicher. Schnell erledigt oder absurd. Aber dieser Fall entwickelt sich zu meinem schwierigsten überhaupt. Es ist nicht nur der Detektiv, der einen Fall löst, sondern er entwickelt sich zu etwas, wo der Vater gefordert ist. Emilio wollte dem Jungen helfen und nimmt ihm seinen Vater weg. Verdammt nochmal.

Doch auch mein Sohn merkt langsam, dass er so einiges verbockt hat. Auch ihm fehlen die Worte.
Ich drehe mich wieder zu Lukas um und versuche den nächsten Start.

Er wippt immer noch hin und her und weint. Ich hocke mich vor ihm hin. So. Jetzt mache ich aber alles richtig. Hoffe ich.

Plötzlich steht Lukas auf und möchte zu Emilio. Er scheint in ihm eine Schutzperson zu sehen. Woher kennen sie sich überhaupt? Das würde mich auch mal interessieren.

Jetzt stehe aber auch ich auf und versuche den dritten Start. Jetzt aber.
„Hey, du. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich überlege mir was, damit ich helfen kann, okay? Aber dafür muss ich erstmal verstehen, was hier vor sich geht.“
Lukas bleibt stehen.

Was ich mich sowieso schon die ganze Zeit frage ist, warum er gerade in diesem leeren Haus ist? Er hat es so detailreich gezeichnet. Als ob er es kennt. Es ihm vertraut ist.
Nachdem ich mich versuche, weiterhin so einigermaßen zu sortieren, möchte ich nebenbei noch die Situation mit meinem Sohn zu klären, aber ich weiß verdammt nochmal nicht weiter. Das ist mir wirklich gerade etwas zu viel. Das kann mich meinen Job kosten, wenn ich jetzt einen Fehler mache.

Das weiß Emilio aber auch. Nur er macht immer erst und denkt dann nach. Das ist seine größte Schwäche, auch wenn er es gut meint. Er verzieht auch immer mehr die Miene, weil ihm klar geworden ist, in was er mich da reingeritten hat. Ich muss aber jetzt behutsam sein, sonst verschrecke ich Lukas. So viele Emotionen kommen wieder hoch. Das reinste Chaos.
„Woher kennt ihr euch denn eigentlich?“

„Jenny ist Musikerin. Wir singen zwischendurch mal zusammen irgendwo.“
Schließlich wende ich mich dem Kleinen wieder zu und versuche die Anspannung zu lösen. Er steht auch nur da und schaut in die Weltgeschichte. Tippelt mit dem Fuß. Zum Glück ist er jetzt nicht abgehauen, weil er Angst vor mir hat. Das will ich absolut nicht erreichen.
Also starte ich den nächsten Versuch und hocke mich wieder vor ihn hin.
„Hey, Sportsfreund. Emilio ist also dein Kumpel, ja? Spielt ihr denn zusammen Basketball und so? Wird mal Zeit, dass ihn da jemand schlägt.“

Ja, geht doch. Der Anfang ist gemacht. Er muss kurz lachen, bis seine Miene wieder starr wird.
Na toll.

Doch gebe ich jetzt nicht auf.
„Ich werde dir helfen und dein Papa wird ordentlich Schimpfe von mir bekommen, okay? Und ähm.“
Da verließen sie ihn wieder.

Ich schaue erst Emilio an und dann den Kleinen. Er starrt mich die ganze Zeit nur an. Aber irgendwie auch nicht. Schaut er mich überhaupt an? Egal. Ich bin schon verzweifelt genug. Leute. Ich habe doch vor kurzem erst meine Frau verloren und jetzt verbockt mein Sohn noch was und aaaaah. Wow. Das hat noch niemand geschafft. Ich verzweifle gerade echt.
„Hör zu. Also wie gesagt. Ich werde schauen, was ich ähm. Was ich machen kann. Dein Vater wird nichts mehr machen. Versprochen. Aber du musst jetzt trotzdem nach Hause, okay? Und deine Mutter kann mich jederzeit anrufen und dann komme ich vorbei. Okay? Also?“

Langsam werde ich so richtig nervös, weil erstmal die Situation Müll ist und ich nicht weiß, wie ich die Reaktion von Lukas jetzt deuten soll. Er sagt rein gar nichts und selbst Emilio steht nur stumm da. So verlassen habe ich mich echt noch nie gefühlt. Noch nie.
„Okay“, kommt nach einer Weile von dem Schüler.
Er rennt nach oben und holt seinen Rucksack.
Emilio und ich schauen uns an und er zuckt nur mit den Schultern.

Eigentlich war ja mein Auftrag, dass ich einfach nur diesen Jungen finden soll und dann entpuppt sich daraus sowas. Mittlerweile habe ich auch Kopfschmerzen. Doch es bringt mir nichts, Emilio jetzt seinen Taten zu stellen. Das muss ich geschickter angehen. Aber eben nicht heute. Jetzt muss der Kleine erstmal nach Hause und ich mache dann dem Vater klar, dass er seine Füße stillhalten soll.

Bevor wir bei ihm zuhause ankommen, verabschiedet sich Emilio noch bei mir.
„Entschuldigung, Paps. Ich meinte es nicht böse.“
„Wir reden morgen.“
„Klar.“
Wir nehmen uns in den Arm und hier trennen sich unsere Wege vorerst.
Lukas ist nochmal zurück, um sein Fahrrad zu holen. Ich hoffe nur, dass er jetzt nicht noch einmal ausbüxt. Deswegen behalte ich ihn gut im Auge.

Schließlich kommt Lukas um die Ecke. Noch etwas skeptisch, aber ich mache ihm Mut, dass nun alles gut ist.

An dem Fall bleibe ich trotzdem noch dran, auch wenn meine Arbeit hier jetzt erledigt ist. Ich werde mal mit Alexander reden. Aber erstmal muss ich rausfinden, was hier vor sich geht.
Wir kommen durch die Tür und seine Mutter sitzt immer noch wie erstarrt vor dem Fernseher. Vom Vater keine Spur. Macht er aber einen falschen Wink, dann wird er sehen, wozu ich fähig bin.

Auch wenn ich noch nicht viel weiß, merke ich, dass mich der Fall sehr berührt.
Ich setze mich zu Frau Steinberg.
„Ihr Sohn ist wieder da und wenn irgendwas ist, können sie mich jederzeit anrufen. Ich würde sie morgen aber bitten, einmal bei mir vorbeizukommen, damit wir alles besprechen können. Mehr möchte ich heute nicht sagen.“
Frau Steinberg nickt nur.

Ich dachte schon, die Scheidung wäre der Höhepunkt. Aber jetzt noch entscheiden, was mit meinem Sohn passiert, sticht mir noch mehr ins Herz. Und eben auch, was in dieser Familie vor sich geht.
Ich muss erstmal nach Hause und alles sacken lassen.
